Kurzgeschichte ~Verborgen~

Verborgen

Ich werde dich kriegen!“, war alles was Jackson hörte bevor er schweißgebadet durch Blitz- und Donnerschlag aufwachte. Die nach ihm greifenden schwarzen Nebel getriebenen von einem unsichtbarer Etwas, einem Dämon, auf den die zu hören schienen, waren mit einem Mal verschwunden. Wieder war es derselbe Traum wie die letzten Nächte zuvor. Sein Herzschlag war kaum zu bremsen. Wild schlagend nahm es ihm die Luft aus seinen Adern; aus dem Blut, das durch seinen Körper pulsierte. Seine Augen weit aufgerissen blickte er sich in seinem Schlafzimmer um, konnte jedoch zu seiner Erleichterung keine Unregelmäßigkeiten feststellen. Es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder gefasst und seine Atmung sich normalisiert hatte. Immer wieder versuchte er sich einzureden, dass es nur ein Traum war. Ein böser, unkontrollierbarer Alptraum, der sich aus seiner Fantasie zusammensetzte. Einer wirklich lebhaften Fantasie. Es war keine Seltenheit, dass er wild durcheinander träumte, denn bereits als Kind hatte er die schönsten, gruseligsten, aufregendsten Abenteuer in seinen Träumen erlebt. Doch kein einziger Traum fühlte sich so real an wie dieser. Er war präsent in seinem Kopf. So als würde er immer noch träumen und eine Verbindung dazu halten. Eben anders als sonst. Es war, als würde er nach ihm greifen, versuchen ihn in sich zu ziehen. Schlimmer als jeder Horrorfilm, den er jemals gesehen hatte. Mit dem Schlafen war es für diese Nacht jedenfalls definitiv vorbei, das war ihm klar. Egal wie spät es war, er würde ganz sicher nicht mehr die Augen schließen. Er schwang sich aus dem Bett und bewegte sich zu seinem Fenster, dessen Jalousie bereits seit Monaten kaputt war. Bisher war er nicht dazu gekommen, sie zu reparieren oder reparieren zu lassen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, war die eigentliche Wahrheit, dass er bisher dazu keine Lust verspürt hatte. Durch die tobenden Blitze war der Raum so hell erleuchtet, dass er das Licht nicht anzuschalten brauchte. „Komisch.“, dachte er. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es eine Gewitterwarnung gegeben hat.“ Er grübelte über den Wetterbericht, der bis Ende der Woche schönsten Sonnenschein und einen sternenklaren Nachthimmel vorausgesagt hatte. „Merkwürdig.“, murmelte er, beschloss allerdings nicht weiter darüber nachzudenken. Er beobachtete das Schauspiel vor seiner Türe eine Zeit lang und rieb sich dann müde die Augen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bereits halb fünf Uhr morgens war und es bald hell werden würde. Schnaufend stellte er fest, dass er sowieso hätte in einer halben Stunde aufstehen müssen. Wie jeden Tag rief die Arbeit nach ihm, denn irgendwie musste er schließlich an Geld kommen um sein alltägliches Leben bestreiten zu können. Er schwang sich unter die Dusche. Die Zeit verging schnell, sodass er sich letztlich beeilen musste, um nicht zu spät zu kommen, ohne jedoch zu vergessen, sein allmorgendliches Café Latte an der Tankstelle zu organisieren. Gerade heute hatte er diesen dringendst nötig.

Auf der Arbeit war er wie in Trance. Seine Müdigkeit war gerade zu überwältigend. Tatsächlich machten sich die letzten Nächte ohne ausreichend Schlaf durchaus negativ bemerkbar. Wenn nur diese verdammte Träumerei nicht wäre.

Jackson, alles okay mit dir? Du wirkst so abwesend.“ Jackson schreckte hoch, als er die Stimme seines Kollegen und besten Freundes hörte und bemerkte, dass er direkt neben ihm stand, ohne, dass es ihm aufgefallen war. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“

Doch Jackson winkte ab. „Schon okay. Ich bin nur etwas müde. Hab die letzten Nächte einfach schlecht geschlafen, denk ich. Das starke Gewitter hat mich diese Nacht aus dem Schlaf gerissen.“, erzählte er, ohne die ganze Wahrheit preis zu geben. Es ging niemanden etwas an, ob er Alpträume hatte oder nicht. Ehrlich gesagt war es ihm sogar ein wenig peinlich. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren sollte man schließlich keine Angst mehr vor so etwas haben. Ernsthaft. Doch die Frage, die er auf seine Aussage bekam, brachte ihn deutlich ins Wanken.

Welches Gewitter? Wann soll das gewesen sein?“

Na das heute Nacht um ca. vier halb fünf.“

Da war kein Gewitter, darüber bin ich mir ziemlich sicher. Ich bin seit halb vier heute auf, da Josephine zur Frühschicht musste und ich, nachdem ihr Wecker ging, nicht mehr einschlafen konnte.“ Jackson schluckte schwer. Definitiv hatte er ein Gewitter beobachtet, dass direkt über seinem Haus gewütet haben musste. Konnte er sich so geirrt haben?

Jackson, du siehst wirklich nicht gut aus, vielleicht solltest du heute den Rest des Tages lieber frei nehmen und dich ausschlafen. Dann geht es dir mit Sicherheit besser.“

Ich bin mir nicht sicher, es ist so viel zu tun und…“, doch sein Freund unterbrach ihn.

Du gehst jetzt und ich sage dem Chef, dass es dir nicht gut geht. Du schläfst dich zu Hause erst einmal aus. Keine Widerrede.“

Wenn du das sagst.“, versuchte er zu witzeln, doch sein Kopf war mit anderen Dingen beschäftigt. Verwirrt und durcheinander erhob er sich von seinem Stuhl, ergriff sein Jackett und machte sich auf den Weg nach Hause. Irgendetwas lief ganz und gar nicht, wie es laufen sollte.

Zu Hause angekommen legte er sich auf Anraten seines besten Freundes ins Bett. Möglicherweise konnte er klar denken, wenn er wieder richtig wach war und seine Aufmerksamkeitsspanne nicht der eines Kleinkindes gleich war. Es dauerte nicht lange bis er eingeschlafen war. Der Schlaf war friedlich und ohne Vorkommnisse. Kein Alptraum. Nicht einmal irgendein Traum. Nach circa drei Stunden wachte er völlig ausgeruht wieder auf. Vielleicht war die böse Träumerei endlich vorbei, hoffte er. Den Rest des Tages verbrachte er entspannt vor dem Fernseher, zog sich die ein oder andere Realityshow rein und stellte sich mehrfach die Frage, ob die Menschen, die sich dort im Flimmerkasten zeigten, tatsächlich so waren, wie sie sich darstellten. Irgendwie konnte er es sich nicht vorstellen. Trotz des Nachmittagsschlafes war er recht früh am Abend müde. Er zog sich den Schlafanzug an, putzte sich Zähne und kuschelte sich in das ungemachte Bett. Diese Nacht würde ruhig verlaufen, dachte er und wusste nicht, wie sehr er sich damit irren sollte. Schnell war er in den tiefen Schlaf gefallen und als er die Augen öffnete wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er nicht wach in seinem gemütlichen Bett lag. Um ihn herum war es dunkel. Kaum etwas war zu erkennen, außer dem Schimmer von dunklen Nebelschwaden, die um ihn herumzogen. Verdammt, er war wieder in diesem Traum. Aus allen Richtungen hörte er Flüstern und Raunen, konnte jedoch nicht ein Wort verstehen. Er wirbelte hin und her um sich auf alles gefasst zu machen, doch nichts geschah. Mit einem Mal waren die merkwürdigen Stimmen verebbt. Nichts mehr als eine Erinnerung. Der dunkele Ort um ihn herum wurde hell. Er stand auf einer grünen Sommerwiese, dessen Duft er förmlich riechen konnte. Um ihn herum tanzten und spielten Kinder, die ihn nicht wahrzunehmen schienen. Nur ein Kind stand da und regte sich nicht. Es war etwa fünfhundert Meter von ihm entfernt und starrte ihn durchdringend an. Das machte Jackson nervös. Er blickte sich um, doch die anderen Kinder waren weiterhin mit Spielen beschäftigt, einige kletterten sogar auf die Bäume. Im Prinzip war es ein idyllisches Bild, doch dieses Kind vor ihm brachte Unruhe hinein. Unruhe, die er sich noch nicht einmal erklären konnte. Er sah es an und wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmen konnte. Dass der kleine Junge, der starr seinen Blick auf ihn richtete, etwas ausstrahlte, das Jackson durch und durch das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er war sich durchaus bewusst, dass er träumte. Das wusste er immer. Aber diese Szenerie setzte sich von den vorherigen weit ab. In den letzten Träumen waren nur diese Nebelschwaden und ein Wesen, dass er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Eins, dass ihm zurief und versuchte ihn festzuhalten, wenn er wegrannte oder versuchte aufzuwachen. Das hier war anders. Es glich dem zuvor nicht mehr. Jackson wurde das Gefühl nicht los, dass es ein Eigenleben entwickelt hatte. Er wollte weg hier. Und zwar schnell. Doch er konnte nicht. Das Kind bewegte sich inzwischen auf ihn zu. Versuche einen Schritt zurück zu gehen scheiterten. Seine Füße waren wie am Boden festgeklebt. Er konnte die Sohle nicht vom Boden lösen und musste so mit ansehen, wie ihm das Kind dicht über dem Gras schwebend immer näher kam, bis es direkt vor ihm stand. Die Augen des Kindes waren schwarz wie die Nacht. Ein Kontrast zu der idyllischen Umgebung, doch als Jackson seine Aufmerksamkeit von dem Kind vor ihm auf die spielenden Kinder legte, stellte er fest, dass auch diese nicht mehr spielten, sondern ihre Blicke ebenfalls auf ihn gerichtet hatten. Es zogen dunkele Wolken auf, die laut grölten. Wo immer er hier hineingeraten war, er musste hier raus kommen. Es waren Kinder. Nur Kinder, versuchte er sich immer wieder einzureden und schluckte schwer bei dem spärlichen Versuch, das Wort an das Kind vor ihm zu wenden. Die schwarzen Augen fixierten ihn, als könnten sie ihn damit daran hindern die Flucht zu ergreifen. Das Kind kam ihm mit einem Mal so bekannt vor.

Wie heißt du?“ doch der Junge lachte nur diabolisch, was Jackson erschaudern ließ. Wie durch eine Kettenreaktion stiegen die anderen Kinder in das abartige, teuflische Lachen des Jungen mit ein. Von Menschlichkeit hatte es nicht viel. Es klang abgrundtief böse. Jackson nahm seinen Mut zusammen und versuchte es nochmals mit zitternder Stimme: „Komm schon, sag mir deinen Namen.“ Das Lachen aller Kinder, auch das des Jungen, erstarb sofort.

Jackson.“, sagte er mit widererwartend kindlicher Stimme.

Was…?“, für einen Zufall, hatte er sagen wollen, doch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, weiteten sich seine Augen vor schrecklicher Erkenntnis. Jetzt wusste er, warum ihm der Junge bekannt vorkam und woher er ihn kannte. Er war er selbst. Und dann ging alles schnell. Die Wiese um ihn herum war verschwunden und er befand sich wieder an diesem dunklen Ort wie zu Beginn seines Traumes, jedoch mit dem Unterschied, dass der kleine Jackson noch immer vor ihm stand. Die Nebelschwaden begannen wieder aufzuziehen. Der kleine Jackson, der eben noch so bedrohlich gewirkt hatte, hatte sich die Beine anziehend vor ihm auf den Boden gekauert und wippte etwas murmelnd hin und her. Jackson war verwirrt. Was spielte sich hier ab? Seine Angst wurde zunächst von elterlicher Sorge um den Kleinen abgelöst.

Alles okay mit dir, Jacky?“ Er nannte ihn bewusst so, denn so hatten ihn seine Eltern genannt. Vor ihrem Tod. Als sie verstorben waren musste Jackson so in dem Alter gewesen sein, in dem sich sein jüngeres Ich gerade befand. „Zufall?“, fragte er sich.

„…wird das Kind der Dunkelheit…ist nicht weit….Tod berührt…“, murmelte Jacky weiter.

Was sagst du da?“, fragte er, kniete sich zu ihm hinunter und hob drehte den Kopf des Kindes am Kinn zu ihm, damit er ihm in die Augen sehen konnte. Diese waren mittlerweile nicht mehr schwarz und bedrohlich, sondern blau und normal wie die seinigen. Jacky riss sich von ihm los und fiel wieder schaukelnd in seinen Singsang. Jackson musste sich extrem anstrengend, um seine nuschelnden Worte verstehen zu können.

War ein Kind des Sonnenscheins,

ein Kind des frohen Glücklichseins,

verdorben durch des Todes Macht,

nun die Dunkelheit über mich wacht,

Nebel haben mich seither geführt,

und dort mich hat der Tod berührt,

zu dunklen Stunden weggebracht,

jahrelang nicht dran gedacht,

verdrängt des Eltern Todes weit,

werd‘ ich ein Kind der Dunkelheit.

Der Weg dorthin ist nicht mehr weit,

Der Tod berührt, es kommt die Zeit,

Licht besiegt die Dunkelheit.“

Als Jackson den kompletten Text innehatte musste er sich unwillkürlich schütteln. Kind der Dunkelheit? Was sollte das heißen? Wann sollte er vom Tod berührt worden sein? Als seine Eltern starben? Dabei waren sie eines Nachts bei einem Autounfall gestorben. Und keinesfalls hatte er den Tod seiner Eltern verdrängt. Es hatte zwar lange gedauert ihn zu verarbeiten, was allerdings kein Wunder war. Welches Kind steckt den Tod beider Eltern mal eben so weg als wäre nichts gewesen? Keines. Dass das Gedicht oder was auch immer es war über ihn ging, war nicht von der Hand zu weisen. War es eine Prophezeiung? Ein Rückblick? Ein Kinderlied war es jedenfalls nicht. In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass das alles hier einfach aufhörte und er zu Hause in seinem Bett lag. Er schloss resignierend die Augen. Als er sie wieder öffnete stellte er überraschend fest, dass er in seinem Bett lag. Das war es also? Man musste sich einfach nur wünschen aufzuwachen? So einfach sollte das sein? Doch dann bemerkte er, dass es weder Bett, noch sein Schlafzimmer war, in dem er sich befand. Panisch sprang er auf. Wo war er und warum war er auf einmal so klein? Sein Pyjama war ihm viel zu groß. In etwa so, als würde ein Kind den Pyjama eines Erwachsenen anziehen. Und dann machte es klick. Seine Hände fuhren über sein Gesicht. Keine Stoppeln waren zu fühlen, keine Narben, die er sich beim Skaten zugezogen hatte, als er fünfzehn Jahre alt gewesen war. Nichts von alledem. Er rannte zum Lichtschalter und betätigte ihn, doch das Licht ging nicht an. Die Dunkelheit blieb. Egal wie dunkel es grade war, er musste zum Spiegel und sich vergewissern. Er musste es einfach wissen. In der Ecke stand der Spiegel. Eingehüllt in eine Decke. Er konnte es nur schemenhaft erkennen. Dieser Spiegel erinnerte ihn an den, den seine Eltern damals im Schlafzimmer gehabt hatten. Seine Mutter hatte ihn damals zu den dunklen Stunden, wie sie sie genannt hatte, immer abgedeckt. Sie war sehr abergläubisch gewesen und ihr Vater hatte sie dafür immer belächelt. Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht, als er die Decke hinunterzog. Der Blick in das spiegelnde Glas ließ ihm die Luft wegbleiben. Tatsächlich. Er war ein Kind. Genau das Kind, das ihm nur Minuten zuvor gegenüber gestanden hatte. Das Kind, das er selbst einmal gewesen war. Es fiel ihm schwer, dass hier als Traum abzutun, dazu war es zu real. Es fühlte sich echt an. Zu echt, seiner Ansicht nach. Dunkle Nebel bahnten sich hinter ihm den Weg, hinaus aus der Tür, was er durch den Spiegel beobachten konnte. Er schnellte rum und spürte den plötzlichen Drang, ihnen folgen zu müssen. Welch ein Irrsinn, wenn er bedachte, dass er in den letzten Nächten nichts Lieberes getan hätte, als vor ihnen zu flüchten. Nun wollte er sogar hinter ihnen her. Der Weg führte den Flur entlang, die Treppe hinunter und raus aus dem Haus zu einer Scheune. Jetzt wunderte sich Jackson nicht mehr, dass ihm alles bekannt vorkam. Es erinnerte ihn nicht nur an das Haus seiner Eltern, es war das Haus seiner Eltern. Jedoch hatte er nicht sonderlich viel Zeit darüber nachzudenken. Er musste dem Nebel folgen um Licht ins Dunkele zu bringen, denn tief in sich spürte er, dass er etwa erfahren würde, was verborgen lag. Tief verborgen. Als er vor dem Scheunentor stand waren die schwarzen Nebenschwaden verschwunden. Sein Herz klopfte wild, als er den Hebel des Tors in die Hand nahm und es öffnen wollte. Doch es war verschlossen und zwar von innen, denn er konnte den Hebel ohne Probleme bewegen. Nur aufziehen oder aufschieben ließ es sich nicht. Seine Erinnerung verriet ihm, dass die Scheune sonst nie verschlossen gewesen war, denn seine Eltern hatten immer auf die Nachbarschaft in ihrem kleinen Örtchen vertraut. Niemals war etwas weg gekommen, also ließen sie die Scheune sogar über Nacht offen. Außer in der einen Nacht, kam ihm in den Kopf, doch was in dieser Nacht gewesen und warum die Scheune zu dem Zeitpunkt verschlossen war, kam nicht als Erinnerung zu ihm zurück. Er wusste nicht warum, aber etwas an dieser Sache kam ihm merkwürdig vor. Natürlich, er war sein Kinder-Ich und folgte in seinen Träumen schwarzen Nebenschwaden, die ihm Nächte zuvor große Angst bereitet hatten. Das war sicherlich merkwürdig genug, aber hier, mit dieser Scheune, war es anders. Irgendwie bekannt. Wie ein Déjà-vu. Etwas konnte damit sich stimmen und er musste es herausfinden. Es war ein innerliches Bedürfnis, ein Zwang, dem er nachgeben musste. Er konnte sich keineswegs erklären warum. Irgendwie musste er in diese Scheune gelangen. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht waren die Nebenschwaden wieder da. Sie zogen sich von innen nach außen und zurück durch die Ritzen und Löcher des hölzernen Scheunentores und wie durch Zauberhand schwang das Tor nach außen auf. Jackson schluckte schwer. Zu seiner vorhandenen Angst fügte sich seine kindliche Angst, die ihn am ganzen Leibe erzittern ließ. Er betrat vorsichtig die Scheune und wurde von der herrschenden Stille beinahe erdrückt. Auch hier war in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen. Selbst die kleine Leuchte, die zu seiner Verwunderung brannte, erhellte den Raum nicht all zu sehr. Es war kaum der Rede wert. Unterbewusst nahm er die Öllampe in die Hand und hielt sie vor sich, um nicht über herumliegende Werkzeuge oder sonstige Dinge zu stolpern. Er versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, wo sich der Lichtschalter befand, aber es fiel ihm einfach nicht ein. Zwar waren seine Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt, doch es wäre ihm lieber gewesen, wenn er sich hier im Ganzen hätte umsehen können, ohne befürchten zu müssen, dass in jedem Augenblick etwas oder jemand aus irgendeiner Ecke sprang. Darüber wollte er sich jedoch lieber keine Gedanken machen. Seine Fantasie war anscheinend sehr kreativ, obwohl er nach wie vor mit sich kämpfte, dies hier als Traum oder Alptraum abzutun. Plötzlich ertönte ein Donnerschlag, der Jackson so erschreckte, dass er zusammenzuckte. Mittlerweile befand er sich in der Mitte der Scheune und fragte sich, ob seine Intuition, die ihn mehr oder weniger dazu gebracht hatte in die Scheune hinein zu gehen, richtig lag. Das aufziehende Gewitter war ohrenbetäubend. Ein komischer Geruch breitete sich vor ihm aus, den er nicht richtig einzuordnen vermochte. Er bewegte sich nach rechts und folgte dem immer penetranter werdenden Gestank bis zu dem Punkt, an dem er den Drang unterdrücken musste, sich zu übergeben. Als Blitzschlag auf Blitzschlag folgte und die Scheune taghell erleuchtet war, sah er das, was auf ihn gewartet hatte. Er sah seine Eltern an einem Balken baumeln umringt von den schwarzen Nebeln, die er kichern hören konnte und sich an ihren Körpern labten. Das Bild was er vor sich sah zerbarst alles in ihm bis auf das letzte kleine Teilchen Seele, dass in seinem Körper steckte. Er ließ die Öllampe fallen und schrie. Schrie so laut er konnte. Nein, dies war kein normaler Traum. Das, was er hier vor sich sah, war genau das, was vor vielen Jahren in Wirklichkeit geschehen war. Sein Unterbewusstsein hatte es die ganze Zeit gewusst und zusammen mit allen anderen geschickt vor seinem Bewusstsein verborgen gehalten. Nie in Vergessenheit geraten, doch niemals greifbar gewesen. Bis zur heutigen Nacht. Alles kam wieder in sein Gedächtnis zurück. Wie er sich eines Nachts aus dem Haus geschlichen hatte, als seine Granma auf ihn aufgepasst hatte, weil seine Freunde ihn nicht für mutig hielten und er ihnen das Gegenteil beweisen wollte. Wie er dann in die Scheune geklettert war, weil die Neugierde ihn trieb, da das Schloss verriegelt war. Wie er Angst vor dem plötzlichen auftretenden Gewitter bekam und sich für einige Zeit hinter einem Trecker versteckte. Und wie er sie fand. Seine Eltern, die dort an diesem Balken hingen. Tot. Wie damals fiel Jackson auf die Knie und begann zu weinen. Sie hatten ihn belogen. Sie hatten ihn alle belogen. Er hatte ihnen die Geschichte mit dem Autounfall geglaubt. Immer wieder hatten sie ihm davon erzählt, bis er es für die Wahrheit hielt. Nichts als eine Lüge. Sie waren alle Lügner. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Er fühlte sich zerrissen und allein. Er schreckte zusammen, als eine Kinderhand über seinen Kopf strich. Erst als er hochblickte fiel ihm auf, dass der kleine Jacky vom dunklen Nebel umgeben direkt vor ihm stand. Die Augen, schwarz wie die Nacht, funkelten ihn an. Das Kopfstreichen wandelte sich in einen kräftigen Griff in seine Haare, was Jackson aufschreien ließ.

Was zur Hölle tust du da?“, schrie er den Jungen voller Unverständnis an.

Die Stimme, die aus ihm heraustrat, war tief und böse. „Ich hole mir, was mir gehört. Das Böse zum Bösen.“ Er war sich sicher, dass er einen Dämon vor sich stehen haben musste. Woher die Erkenntnis kam, wusste er nicht. Ein Gestaltenwandler, den er schon aus Sagen und Märchen kannte.

Was?“ Jackson verstand nicht.

Du hast Böses in dir. Du hast deine Eltern getötet. Ich hab es selbst gesehen. Schließlich habe ich dich geführt.“ Das diabolische Grinsen des Kindes ließ ihm die restliche Farbe aus dem Gesicht weichen.

Ich habe meine Eltern nicht getötet. Sie haben sich umgebracht, sich erhängt. Ich habe sie nur gefunden.“, verteidigte er sich panisch.

Bist du dir so sicher?“

Erneute Bilder stiegen in ihm auf. Er sah sich, wie er einen Strick und die Hälse seiner bewusstlosen Eltern legte und sie letztlich vom Dachboden rollte. Er fühlte sich gut. Zufrieden mit dem was er getan hatte. Ein Trugbild, sagte er sich. Das Kind gab ihm ein Trugbild, eine verdrehte Realität.

Das kann nicht sein. Das darf nicht sein.“, wimmerte er. „Das darf einfach nicht sein.“ Sein Gesicht brannte von den Tränen die pausenlos liefen. Doch dann wand er sich wutentbrannt an das böse Wesen, das sich als sein jüngeres Ich ausgab. „Du! Du, Dämon, hast das getan!“

Ich sollte dich töten.“, bekam er als Antwort und kaum war er ausgesprochen, legten sich die kindlichen Hände um seinen Hals und drückten so fest, dass ihm die Luft weg blieb. Er konnte sich nicht wehren. Er war sich sicher, er würde sterben, als sich die dunklen schwarzen Nebel wie ein Mantel um ihn legten. Er spürte, wie das Leben langsam aus ihm wich. Doch plötzlich wurde es hell. Einzelne Strahlen bahnten sich den Weg durch die teils zerbrochenen Fenster und Ritzen der Scheune. Die Sonne musste wohl gerade aufgehen. Der Griff um seinen Hals ließ nach. Er spürte die deutliche Verärgerung des Jungen, des Wesens, was auch immer es war. Erschöpft fiel er ihn Ohnmacht. In seinem Ohr konnte er noch seine düsteren Worte klingen hören, die wie ein Versprechen klangen: „Ich werde dich kriegen. Das Licht kann dich nicht immer retten.“ Und er fiel. Und fiel. Und fiel.

Schweißgebadet wachte er auf und versuchte seine Atmung zu kontrollieren, was ihm sichtlich schwer fiel. Kerzengrade saß er im Bett und konnte aus dem Schlafzimmerfenster Bild

die aufgehende Sonne beobachten. Es wurde bereits hell. Die Sonnenstrahlen hatten ihn durch sein offenes Fenster also aus seinem Traum geholt. Nachdem er sich darüber versichert hatte, dass er nicht mehr träumte und sich tatsächlich in seinem eigenen Bett in seinem eigenen Zuhause befand, musste er dennoch über den Alptraum nachdenken, den er soeben gehabt hatte. An Grausamkeit war er selbst für seine Fantasie nicht zu überbieten. Seine Eltern getötet zu haben war das Absurdum überhaupt. Aber sein Unterbewusstsein hatte ihm Verborgenes offenbart. Die wahre Todesart seiner Eltern musste er tatsächlich verdrängt haben. Über die Lügen seiner Großeltern und scheinbar auch denen der Nachbarn im Dorf war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Er musste erst träumen, dass ihm bewusst wurde, was wirklich geschehen war. Vielleicht war das der Grund der ständigen Alpträume gewesen und er würde nun seine Ruhe haben. Zumindest in den dunklen Stunden. Er schüttelte den Kopf. Wenn sich nichts änderte musste er wirklich etwas gegen diese Alpträume tun, einen Arzt oder am besten einen Psychologen aufsuchen. So ging es jedenfalls nicht weiter. Nicht, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte. Es war ein Traum. Nichts weiter als ein böser gemeiner Traum, der ihn nicht verunsichern sollte. Er nahm einen tiefen Atemzug und begab sich ins Bad. Etwas kaltes Wasser ins Gesicht und er würde wieder bei klarem Verstand sein. Die Frische, die sein Gesicht mit dem Wasser erfuhr, ging durch seinen ganzen Körper. Er wusch sich die Augen aus um die Müdigkeit daraus zu vertreiben und trocknete sich das Gesicht mit einem neuen Handtuch ab. Doch den Blick in den Spiegel hätte er lieber unterlassen sollen, denn von dort aus starrten ihn tiefe dunkle schwarze Augen des Jungen an, die von einem satanischen Grinsen begleitet wurden…

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